- Notstandsverfassung
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NotstandsverfassungIm Deutschlandvertrag vom 26. Mai 1952 (in der Fassung vom 23. Oktober 1954) war festgelegt worden, dass die den drei ehemaligen Besatzungsmächten Frankreich, Großbritannien und USA noch zustehenden und von ihnen ausgeübten Rechte bezüglich des Schutzes und der Sicherheit ihrer in der Bundesrepublik stationierten Streitkräfte auf deutsche Behörden übergehen sollten, sobald diese von der deutschen Gesetzgebung die entsprechenden Vollmachten erhalten haben würden, um die Sicherheit dieser Streitkräfte zu gewährleisten. Das hieß: Wollte man diese Einschränkung der Souveränität der Bundesrepublik aufheben, mussten Gesetze für jede Art von Notsituationen beschlossen und in das Grundgesetz eingebaut werden. Die Diskussion um die Notstandsgesetze begann bereits mit dem ersten Entwurf des Bundesinnenministeriums im Jahre 1958. Dieser und die weiteren Entwürfe 1960 und 1963, die die Rechte der Exekutive sehr stark ausweiteten, fanden nicht die notwendige Mehrheit im Parlament. Die Große Koalition griff nun das Problem wieder auf und sah es als eine vordringliche und lösbare Aufgabe an, Notstandsgesetze zu beschließen und damit die alliierten Vorrechte abzulösen.Die jetzt unter Mitarbeit der SPD neu gestalteten Notstandsgesetze wurden im Bundestag am 30. Mai 1968 mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit - gegen die Stimmen der FDP - angenommen. Die Debatte über diese Gesetze hatte sowohl im Parlament als auch in der Öffentlichkeit zu heftigen Auseinandersetzungen geführt. Außerhalb des Parlaments waren es vor allem die Gewerkschaften und die Studenten, die Protestkundgebungen im ganzen Land durchführten und von der Annahme der Notstandsgesetze einen unerträglichen Machtzuwachs für den Staat erwarteten.Mit der am 28. Juni 1968 in Kraft getretenen Notstandsverfassung war der Gesetzgeber bemüht, eine missbräuchliche Anwendung zu verhindern, wie sie der Artikel 48 der Weimarer Verfassung dem Reichspräsidenten von Hindenburg bei der Ausschaltung des Reichstags ermöglicht hatte. So wird die Feststellung des Verteidigungsfalls auf Antrag der Bundesregierung vom Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates getroffen. Stehen dem rechtzeitigen Zusammentritt des Bundestages unüberwindliche Hindernisse entgegen, trifft der Gemeinsame Ausschuss die Feststellung. Dieser besteht (seit 1990) aus 16 Mitgliedern des Bundesrats (ein Vertreter je Bundesland) und 32 nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen bestimmten Bundestagsabgeordneten. Bestehen weiterhin unüberwindliche Hindernisse für den Zusammentritt des Bundestages, tritt der Gemeinsame Ausschuss im Verteidigungsfall an die Stelle von Bundestag und Bundesrat. Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts darf nicht eingeschränkt werden. Die Gesetzgebungskompetenz und die Weisungsbefugnisse des Bundes gegenüber den Ländern werden im Verteidigungsfall erweitert. In verschiedene Grundrechte kann zum Teil erheblich eingegriffen werden; dies gilt auch für den inneren Notstand oder im Katastrophenfall. Einige der vorgesehenen Maßnahmen können schon vor dem Verteidigungsfall getroffen werden, wenn der Bundestag den Spannungsfall feststellt.IINotstandsverfassung,die verfassungsrechtlichen Regeln, nach denen die Staatsorgane zur Abwehr besonderer Notlagen ermächtigt werden. Die Notstandsverfassung wird durch einfache Notstandsgesetze (insbesondere Gesetze zum Zivilschutz, die Sicherstellungsgesetze, Gesetze zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses) näher ausgestaltet. Das GG beschränkte sich ursprünglich auf nur wenige und lückenhafte Bestimmungen, auf deren Grundlage die Staatsorgane Notsituationen begegnen konnten. Nach langen Vorbereitungen und lebhaften öffentlichen Auseinandersetzungen (außerparlamentarische Opposition) verabschiedete der Deutsche Bundestag am 24. 6. 1968 das Siebzehnte Gesetz zur Ergänzung des GG; es enthält Regelungen für den äußeren Notstand (Verteidigungs- und Spannungsfall) und den inneren Notstand (innere Unruhen und Naturkatastrophen). Ein Ausnahmezustand ist dem GG fremd. Durch diese GG-Änderung erloschen die im Besatzungsstatut von 1949 und im Deutschlandvertrag von 1952 wurzelnden alliierten Vorbehaltsrechte, die den drei Westmächten im Falle bestimmter Notlagen Eingriffe auch in die Grundrechte erlaubt hätten.Der Verteidigungsfall kann vom Bundestag mit Zweidrittelmehrheit festgestellt werden, wenn das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht; die Feststellung erfolgt auf Antrag der Bundesregierung, bedarf der Zustimmung des Bundesrats und ist vom Bundespräsident im Bundesgesetzblatt zu verkünden (Art. 115 a GG). In Ausnahmefällen, d. h. bei unüberwindlichen Hindernissen oder Beschlussunfähigkeit des Bundestags, kann die Feststellung vom Gemeinsamen Ausschuss getroffen werden. Während des Verteidigungsfalls sind die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes erweitert und das Gesetzgebungsverfahren vereinfacht; die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte geht auf den Bundeskanzler über, die Bundesregierung kann Einheiten des Bundesgrenzschutzes im ganzen Bundesgebiet einsetzen und Landesorganen Weisungen erteilen. Außerdem können in Einschränkung der Berufsfreiheit Wehrpflichtige und Frauen im Alter von 18 bis 55 Jahren zu Dienstleistungen herangezogen werden (Art. 12 a Absatz 3-6 GG). Vor Eintritt des Verteidigungsfalls kann der Bundestag den Spannungsfall feststellen; damit werden die Gesetze zur Erhöhung der Verteidigungsbereitschaft und zur Sicherstellung der Versorgung von Streitkräften und der Zivilbevölkerung angewendet (Art. 80 a GG, Dienstverpflichtung).Zur Kontrolle der Exekutive in Kriegszeiten ist u. a. vorgesehen, dass Bundestag und Landtage ihre Tätigkeit nicht aufgrund von Neuwahlen unterbrechen. Der Bundestag darf nicht aufgelöst werden, die Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts ist zu erhalten. Mit Zustimmung des Bundesrats kann der Bundestag den Verteidigungsfall jederzeit für beendet erklären. Wenn dessen Voraussetzungen entfallen sind, hat die Erklärung unverzüglich zu erfolgen.Beim inneren Notstand handelt es sich um die Abwehr drohender Gefahren für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines der Länder, die von innen her drohen (Art. 91 GG). Es kann hierbei auch um die Abwehr der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Fällen von besonderer Bedeutung gehen (Art. 35 Absatz 2 GG). Die Abwehr derartiger Gefährdungen ist in erster Linie Sache der Länder. Das betroffene Land kann zu diesem Zweck u. a. Polizeikräfte anderer Länder und Bundesgrenzschutzeinheiten anfordern. Das Recht auf Freizügigkeit kann eingeschränkt werden. - Ist das Land nicht selbst zur Bekämpfung der Gefahr bereit oder in der Lage, kann die Bundesregierung seine Polizei und zusätzlich Polizeikräfte anderer Länder ihren Weisungen unterstellen sowie Einheiten des Bundesgrenzschutzes einsetzen. Erstreckt sich die Gefahr über ein Land hinaus, kann sie den betroffenen Landesregierungen Weisungen erteilen. Sie darf erforderlichenfalls auch die Bundeswehr zum Schutz ziviler Objekte und gegen organisierte und militärisch bewaffnete Aufständische einsetzen (Art. 87 a Absatz 4 GG). Der Einsatz von Streitkräften ist jedoch einzustellen, wenn Bundestag oder Bundesrat es verlangen. Auch andere Maßnahmen müssen jederzeit auf Verlangen des Bundesrats aufgehoben werden. Sie sind spätestens aufzuheben, wenn die Gefahr vorüber ist. Maßnahmen nach dem Recht der Notstandsverfassung dürfen nicht in Arbeitskämpfe eingreifen, außer wenn ein politischer Streik die Versorgung der Bevölkerung gefährdet oder er sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richtet.Ähnliche Regelungen wie im inneren Notstand gelten im Katastrophenfall bei Eintritt einer Naturkatastrophe oder eines besonders schweren Unglücksfalls (Art. 35 Absatz 2 und 3 GG).Im Zuge der Verabschiedung der Notstandsverfassung wurde das Widerstandsrecht (Art. 20 Absatz 4) in das GG aufgenommen. Von den Regelungen der Notstandsverfassung getrennt zu betrachten ist der Gesetzgebungsnotstand.Die österreichische Bundesverfassung ermächtigt den Bundespräsidenten (auf Vorschlag der Bundesregierung im Einvernehmen mit dem ständigen Unterausschuss des Nationalrates, Art. 18 Absatz 3-5) sowie die Landesregierungen (im Einvernehmen mit einem Landtagsausschuss, Art. 97 Absatz 3 und 4) gesetzändernde VO zur Abwehr eines offenkundigen, nicht wieder gutzumachenden Schadens für die Allgemeinheit zu erlassen. Der Sitz der obersten Organe des Bundes kann vom Bundespräsidenten für die Dauer außergewöhnlicher Verhältnisse in einen anderen Ort im Bundesgebiet verlegt werden. Schließlich ist das Bundesheer über die militärische Landesverteidigung hinaus auch zum Schutz der verfassungsmäßigen Einrichtungen sowie der demokratischen Freiheiten der Einwohner sowie zu Hilfeleistungen bei Elementarereignissen und Unglücksfällen außergewöhnlichen Umfanges berufen (Art. 79).In der Schweiz kann die Bundesversammlung bei besonderer Dringlichkeit bestimmte Erlasse als sofort anwendbar erklären, selbst wenn für den Erlass eine verfassungsrechtliche Grundlage fehlt oder dieser dem fakultativen Referendum unterstehen würde. Diese dringlich erklärten allgemein verbindlichen Bundesbeschlüsse sind unter bestimmten Umständen binnen Jahresfrist vom Volk zu genehmigen (Art. 89bis Bundesverfassung). Der Bundesrat kann zur Wahrung der inneren und äußeren Sicherheit die erforderlichen Maßnahmen treffen (Art. 102 Ziffer 10 und 11 Bundesverfassung).K. Gallent: Katastrophe u. Notstand (Graz 1983);M. Schneider: Demokratie in Gefahr? (1986).
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Not|stands|ver|fas|sung, die: Gesamtheit derjenigen Notstandsgesetze, die Bestandteil der Verfassung sind.
Universal-Lexikon. 2012.